Sonntag, 11. Oktober 2020

t@cker: 30 Jahre Einheit - zuhören und voneinander lernen

t@cker: 30 Jahre Einheit - zuhören und voneinander lernen

"30 Jahre Deutsche Einheit

Zuhören und voneinander lernen

Am 9. November 1989 wurden die Grenzen zwischen der BRD und der DDR geöffnet. Die Mauer wurde später abgerissen. In Berlin sind nur noch ca. 1,5 Kilometer Mauerreste zu finden.

Er erinnert sich eindrücklich an den Mauerfall. Sie ist als Nachwendekind dankbar für die Freiheiten, mit denen sie im Osten aufwachsen durfte. Die Vorsitzende der dbb jugend, Karoline Herrmann, und Horst Günther Klitzing, Vorsitzender der dbb senioren, blicken aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Deutsche Einheit.
Für den aktuellen t@cker haben sie darüber gesprochen, welche Unterschiede es noch zwischen Ost und West gibt und wie wir sie überwinden.

Der 3. Oktober wurde als Tag der Deutschen Einheit im Einigungsvertrag 1990 zum gesetzlichen Feiertag in Deutschland bestimmt.

Regionale Unterschiede bleiben

„Ob wir heute eine Einheit sind, darüber lässt sich streiten. Natürlich sind wir eine Einheit, wenn wir an die Sprache und die Kultur denken. Aber auch das sieht schon nicht jeder so wie ich“, sagt dbb Seniorenchef Horst Günther Klitzing.

Für den 72-Jährigen war immer klar, dass die Wiedervereinigung viel Zeit braucht, nachdem man mehr als 40 Jahre in unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Umgebungen gelebt hat.

Die Vorsitzende der dbb jugend, Karoline Herrmann, ist 1990 geboren und kennt nur ein wiedervereintes Deutschland. „Ich habe selbst keine eigenen Erinnerungen an die DDR. Meine Generation durfte die ganzen Vorzüge, die die Einheit mit sich gebracht hat, erleben. Ich bin in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, habe aber in Schleswig-Holstein studiert.
Den Studienort frei wählen zu können, das wäre mit der Teilung nicht möglich gewesen.“

Doch auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall begegnen Herrmann immer wieder die Kategorien „Ossi“, „Wessi“ und die damit verbundenen negativen Zuschreibungen.
„Die Mauer in den Köpfen ist leider oft noch vorhanden.“ Vor einigen Jahren habe ihr der Funktionsträger einer Gewerkschaft gesagt, dass ihr Abitur weniger wert sei.
„Dieser Kommentar ist abfällig. Nachweislich ist in den westlichen Bundesländern an einigen Schulen wesentlich Schlechteres geleistet worden“, entgegnet Klitzing bestürzt. Das Bild der Mauer sei ihm allerdings zu massiv. „Es wird aktuell auch von der Presse oft genutzt, weil es eindrücklich ist. Aber wir haben keine Mauer mehr. Das Bild ist nicht mehr angemessen.“ Regionale Unterschiede werde es immer geben – auch zwischen Bayern und Schleswig-Holstein. Einige Begrifflichkeiten kämen auch nicht von den Menschen, sondern hätten sich institutionell so eingebürgert und würden die Linie zwischen Ost und West künstlich nachzeichnen. Braucht es noch einen Ostbeauftragten, fragt sich Klitzing.
Viele der Problemlagen könnte auch ein Beauftragter für wirtschaftlich schwächere Regionen für das gesamte Bundesgebiet bearbeiten.

Vertrauen in die Gewerkschaften im Osten stärken

Karoline Herrmann und Horst Günther Klitzing sind sich einig: Der Wiedervereinigungsprozess ist noch nicht abgeschlossen.

Als Karoline Herrmann zuhause erzählt, dass sie der komba gewerkschaft beigetreten ist und sich in der dbb jugend engagiert, sind ihre Eltern erschrocken: „Kind, mach das nicht!“
In der DDR gab es nur eine Gewerkschaft. „Das war in den Erzählungen meiner Familie immer ein Einheitsbrei. Man war Mitglied, hatte aber nichts davon.“
Die Erfahrungen wirken auch bei den Gewerkschaften im dbb bis heute nach.
„Wir sind in vielen ostdeutschen Bundesländern nicht so mitgliederstark wie in manchen westlichen oder südlichen Regionen. Das Vertrauen in die Gewerkschaftsarbeit musste nach 1990 erst neu aufgebaut werden“, hält Herrmann fest.
„Im dbb hat man von Anfang an versucht, die Vertretungen aus den östlichen Bundesländern formal und bei der inhaltlichen Arbeit einzubinden“, erinnert sich Klitzing.
Herrmanns Eltern sind mittlerweile von der Gewerkschaftsarbeit überzeugt.
„Sie finden das, was ich mache, richtig und wichtig. Mein Papa ist zwischenzeitlich selber einer Gewerkschaft beigetreten.“
Wie überzeugt die Vorsitzende der dbb jugend junge Menschen im Osten, sich gewerkschaftlich zu organisieren? „Da mache ich in der Ansprache in Ost- und Westdeutschland keine Unterschiede.“

Die 30-Jährige bringt die Vorteile auf den Tisch: Der dbb habe mit über 40 Fachgewerkschaften Expertinnen und Experten für jede Berufsgruppe.
„Mit den ehrenamtlichen Strukturen erreichen wir in den Branchen eine ganz andere Nähe, als würde man alles nur vom Schreibtisch aus der Ferne betrachten.“ Für viele junge Menschen sei das entscheidende Argument, dass man sich selber einbringen und aktiv mitmachen kann. „Es wird nicht alles von oben entschieden. Von jeder Ortsgruppe aus, kann man sich beteiligen.“

Arbeitszeit und Rente angleichen

Der Einigungsvertrag

Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 regelt sämtliche durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland notwendig gewordenen Veränderungen, die mit dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 in Kraft getreten sind. Dazu gehören unter anderem beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes, die Rechtsangleichung und die Neuordnung der Öffentlichen Verwaltung und des Öffentlichen Vermögens.

Quelle:
https://www.bpb.de/nachschlagen/
gesetze/einigungsvertrag/

t@cker: Der Jahresbericht zum Stand der Einheit 2020 und mehrere Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) zeigen, dass sich die Erwerbstätigkeit und das Renteneinkommen zwar angeglichen haben, aber noch lange nicht einheitlich sind.
Die westdeutschen Rentnerinnen und Rentner beziehen bisher insgesamt sehr viel höhere Alterseinkommen. Diese setzen sich neben der gesetzlichen Rente insbesondere aus privaten und betrieblichen Renten sowie Einnahmen aus Vermögen zusammen.
Den heutigen Rentnerinnen und Rentnern, die vor allem in der DDR erwerbstätig waren, fehlte meist die Möglichkeit, zusätzlich Vermögen oder private Rentenanwartschaften aufzubauen.
Doch auch die gesetzliche Rente hat 30 Jahre nach Herstellung der Deutschen Einheit immer noch nicht das Westniveau erreicht. Ist die unterschiedliche Rentenhöhe in Ost und West gerechtfertigt?

„Die anfänglich unterschiedliche Höhe der Rentenwerte in Ost und West war vor 30 Jahren sicherlich nachvollziehbar. Aber in den letzten Jahren hat man doch gesehen, dass die beruflichen Entwicklungen sehr ähnlich sind. Die Unterschiede in der gesetzlichen Rente sind nicht mehr hinnehmbar“, sagt Klitzing. Der ddb habe immer klare Forderungen bei den Gesprächen mit der Politik in Berlin kommuniziert. Die Angleichung der Rente sollte deutlich vor 2025 erfolgen. „Bei meinem letzten Gespräch im Sozialministerium wurde aber nochmal ganz klar gesagt, dass man aus dieser Systematik nicht rauskommt beziehungsweise politisch auch keine frühere Angleichung möchte.“
Herrmann weist auch auf die unterschiedliche Gehaltsentwicklung in den neuen und alten Bundesländern hin: „Die günstigeren Lebenshaltungskosten sind – auch von Gleichaltrigen, die im Westen groß geworden sind – immer das Totschlagargument.
Das ist Quatsch. Brot, Brötchen und Käse im Supermarkt kosten genau so viel und wenn man von günstigen Grundstücken ausgeht, hat das eher etwas mit dem ländlichen Raum zu tun. Den gibt es im Osten und Westen gleichermaßen“, sagt Herrmann.
Klitzing stimmt ihr zu: „Ich habe die meiste Zeit meines Lebens im Saarland gelebt.
Ich weiß wie günstig dort die Grundstücks- und Baupreise sind.
Und ob ich in Saarbrücken oder Dresden lebe, bei den allgemeinen Lebenshaltungskosten gibt es keine großen Unterschiede.“
Beide unterstützen daher die Forderungen nach gleichen Arbeitsbedingungen und gleichem Lohn für gleiche Arbeit.

t@cker: Die Gewerkschaften fordern in der aktuellen Einkommensrunde eine Angleichung der Arbeitszeit Ost und West. Am 19./20. September 2020 wurden die Tarifverhandlungen für die Beschäftigten von Bund und Kommunen bereits zum zweiten Mal ohne konkretes Angebot der Arbeitgeberseite vertagt. Was erwartet der dbb hinsichtlich der Unterschiede in den neuen und alten Bundesländern in der dritten Verhandlungsrunde?
„Unsere Position: 2025 ist definitiv zu spät. Es wurde schon bei der letzten Tarifverhandlung angeführt, dass die Ost-West-Angleichung nicht von heute auf morgen geschehen kann.
Wir haben aber jetzt schon 30 Jahre nach der Einheit. Es ist für viele nicht mehr nachvollziehbar, warum es diese Unterscheidung gibt“, beklagt Herrmann.
„Wir machen in der Zeit vor der dritten Verhandlungsrunde nochmal Druck. Die Kolleginnen und Kollegen im Osten sollen nicht für die gleiche Arbeit weiterhin eine Stunde mehr arbeiten müssen. Die Angleichung muss schneller gehen.“

Auf die Jugend hören

Die Vorsitzende der dbb jugend und der Vorsitzende der dbb senioren unterstützen die Forderungen der Beschäftigten in den neuen Bundesländern nach gleichen Arbeitsbedingungen und gleichem Lohn für gleiche Arbeit.

t@cker: Der demografische Wandel schreitet fort: Die Zahl älterer Menschen nimmt zu, die der jüngeren hingegen ab. Für die Gestaltung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ist es jedoch wichtig, die Interessen aller Generationen zu berücksichtigen.
Was erwartet die dbb seniorenvertretung von der Generation der Nachwendekinder?

„Ich halte grundsätzlich nichts davon, dass man meint, wenn man die Pensionsgrenze überschritten hat, weiß man alles. Ich gebe den Jüngeren keine gut gemeinten Ratschläge“, stellt Klitzing klar. Das gelte für die dbb jugend genauso wie für die jüngere Generation innerhalb der eigenen Fachgewerkschaft. „Wenn wir nach unseren Erfahrungen aktiv gefragt werden, dann können wir natürlich gerne ins Gespräch kommen.
Aber ich kann trotz reichlich Verbandserfahrung im Jahr 2020 der dbb jugend nicht sagen, wie sie sich inhaltlich zu positionieren oder zu arbeiten hat.“ Die junge Generation habe andere Möglichkeiten, stünde aber auch vor anderen Herausforderungen. „Als wir so alt waren wie jetzt die Jugendvertretung, da gab es das Internet nur im militärischen Bereich.
Das Wort Handy konnte man gar nicht schreiben. Es waren entsprechend keine sozialen Medien vorhanden. Das sind aber die Gegebenheiten, von denen man heute ausgehen muss.“ Der Gebrauch digitaler Geräte habe die Kommunikation entscheidend verändert, auch innerhalb einer Interessenvertretung oder einer Fachgewerkschaft.
„Ich wünsche mir, dass unsere dbb jugend auf ihre Art dazu beiträgt, die Interessenvertretung der Fachgewerkschaften und ihrer Mitglieder zu stärken. Das stärkt auch den Dachverband, was politisch ein wichtiges Ziel ist. Außerdem erhoffe ich mir, dass die dbb jugend zu innerverbandlichen Diskussionen entscheidend beiträgt. Das setzt voraus, dass die Funktionsträger, die nicht in der Nähe des Jugendalters sind, auch zuhören und den ein oder anderen Gedanken aufnehmen.“ Die Vorsitzende der dbb jugend möchte da natürlich nicht widersprechen. „Ich hoffe, dass wir uns die positiven Dinge aus dem Osten und dem Westen bewahren und generationenübergreifend voneinander lernen“, gibt Herrmann zum Abschluss mit."

Quelle: t@cker 10/2020, S. 7-9.




 

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