t@cker: 30 Jahre Einheit - zuhören und voneinander lernen
"30 Jahre Deutsche Einheit
Zuhören und voneinander lernen
Er erinnert sich eindrücklich an den
Mauerfall. Sie ist als Nachwendekind dankbar für die Freiheiten, mit
denen sie im Osten aufwachsen durfte. Die Vorsitzende der dbb jugend,
Karoline Herrmann, und Horst Günther Klitzing, Vorsitzender der dbb
senioren, blicken aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Deutsche
Einheit.
Für den aktuellen t@cker haben sie darüber gesprochen, welche
Unterschiede es noch zwischen Ost und West gibt und wie wir sie
überwinden.
Regionale Unterschiede bleiben
„Ob wir heute eine Einheit sind, darüber lässt sich streiten.
Natürlich sind wir eine Einheit, wenn wir an die Sprache und die Kultur
denken. Aber auch das sieht schon nicht jeder so wie ich“, sagt dbb
Seniorenchef Horst Günther Klitzing.
Für den 72-Jährigen war immer klar,
dass die Wiedervereinigung viel Zeit braucht, nachdem man mehr als 40
Jahre in unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Umgebungen gelebt
hat.
Die Vorsitzende der dbb jugend, Karoline Herrmann, ist 1990
geboren und kennt nur ein wiedervereintes Deutschland. „Ich habe selbst
keine eigenen Erinnerungen an die DDR. Meine Generation durfte die
ganzen Vorzüge, die die Einheit mit sich gebracht hat, erleben. Ich bin
in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, habe aber in Schleswig-Holstein
studiert.
Den Studienort frei wählen zu können, das wäre mit der Teilung
nicht möglich gewesen.“
Doch auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall begegnen Herrmann immer
wieder die Kategorien „Ossi“, „Wessi“ und die damit verbundenen
negativen Zuschreibungen.
„Die Mauer in den Köpfen ist leider oft noch
vorhanden.“ Vor einigen Jahren habe ihr der Funktionsträger einer
Gewerkschaft gesagt, dass ihr Abitur weniger wert sei.
„Dieser Kommentar
ist abfällig. Nachweislich ist in den westlichen Bundesländern an
einigen Schulen wesentlich Schlechteres geleistet worden“, entgegnet
Klitzing bestürzt. Das Bild der Mauer sei ihm allerdings zu massiv. „Es
wird aktuell auch von der Presse oft genutzt, weil es eindrücklich ist.
Aber wir haben keine Mauer mehr. Das Bild ist nicht mehr angemessen.“
Regionale Unterschiede werde es immer geben – auch zwischen Bayern und
Schleswig-Holstein. Einige Begrifflichkeiten kämen auch nicht von den
Menschen, sondern hätten sich institutionell so eingebürgert und würden
die Linie zwischen Ost und West künstlich nachzeichnen. Braucht es noch
einen Ostbeauftragten, fragt sich Klitzing.
Viele der Problemlagen
könnte auch ein Beauftragter für wirtschaftlich schwächere Regionen für
das gesamte Bundesgebiet bearbeiten.
Vertrauen in die Gewerkschaften im Osten stärken
Als Karoline Herrmann zuhause erzählt, dass sie
der komba gewerkschaft beigetreten ist und sich in der dbb jugend
engagiert, sind ihre Eltern erschrocken: „Kind, mach das nicht!“
In der
DDR gab es nur eine Gewerkschaft. „Das war in den Erzählungen meiner
Familie immer ein Einheitsbrei. Man war Mitglied, hatte aber nichts
davon.“
Die Erfahrungen wirken auch bei den Gewerkschaften im dbb bis
heute nach.
„Wir sind in vielen ostdeutschen Bundesländern nicht so
mitgliederstark wie in manchen westlichen oder südlichen Regionen. Das
Vertrauen in die Gewerkschaftsarbeit musste nach 1990 erst neu aufgebaut
werden“, hält Herrmann fest.
„Im dbb hat man von Anfang an versucht,
die Vertretungen aus den östlichen Bundesländern formal und bei der
inhaltlichen Arbeit einzubinden“, erinnert sich Klitzing.
Herrmanns Eltern sind mittlerweile von der Gewerkschaftsarbeit
überzeugt.
„Sie finden das, was ich mache, richtig und wichtig. Mein
Papa ist zwischenzeitlich selber einer Gewerkschaft beigetreten.“
Wie überzeugt die Vorsitzende der dbb jugend junge Menschen im
Osten, sich gewerkschaftlich zu organisieren? „Da mache ich in der
Ansprache in Ost- und Westdeutschland keine Unterschiede.“
Die
30-Jährige bringt die Vorteile auf den Tisch: Der dbb habe mit über 40
Fachgewerkschaften Expertinnen und Experten für jede Berufsgruppe.
„Mit
den ehrenamtlichen Strukturen erreichen wir in den Branchen eine ganz
andere Nähe, als würde man alles nur vom Schreibtisch aus der Ferne
betrachten.“ Für viele junge Menschen sei das entscheidende Argument,
dass man sich selber einbringen und aktiv mitmachen kann. „Es wird nicht
alles von oben entschieden. Von jeder Ortsgruppe aus, kann man sich
beteiligen.“
Arbeitszeit und Rente angleichen
|
t@cker:
Der Jahresbericht zum Stand der Einheit 2020 und mehrere Studien des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) zeigen, dass
sich die Erwerbstätigkeit und das Renteneinkommen zwar angeglichen
haben, aber noch lange nicht einheitlich sind.
Die westdeutschen
Rentnerinnen und Rentner beziehen bisher insgesamt sehr viel höhere
Alterseinkommen. Diese setzen sich neben der gesetzlichen Rente
insbesondere aus privaten und betrieblichen Renten sowie Einnahmen aus
Vermögen zusammen.
Den heutigen Rentnerinnen und Rentnern, die vor allem
in der DDR erwerbstätig waren, fehlte meist die Möglichkeit, zusätzlich
Vermögen oder private Rentenanwartschaften aufzubauen.
Doch auch die
gesetzliche Rente hat 30 Jahre nach Herstellung der Deutschen Einheit
immer noch nicht das Westniveau erreicht. Ist die unterschiedliche
Rentenhöhe in Ost und West gerechtfertigt?
„Die anfänglich unterschiedliche Höhe der Rentenwerte in Ost und
West war vor 30 Jahren sicherlich nachvollziehbar. Aber in den letzten
Jahren hat man doch gesehen, dass die beruflichen Entwicklungen sehr
ähnlich sind. Die Unterschiede in der gesetzlichen Rente sind nicht mehr
hinnehmbar“, sagt Klitzing. Der ddb habe immer klare Forderungen bei
den Gesprächen mit der Politik in Berlin kommuniziert. Die Angleichung
der Rente sollte deutlich vor 2025 erfolgen. „Bei meinem letzten
Gespräch im Sozialministerium wurde aber nochmal ganz klar gesagt, dass
man aus dieser Systematik nicht rauskommt beziehungsweise politisch auch
keine frühere Angleichung möchte.“
Herrmann weist auch auf die unterschiedliche Gehaltsentwicklung in
den neuen und alten Bundesländern hin: „Die günstigeren
Lebenshaltungskosten sind – auch von Gleichaltrigen, die im Westen groß
geworden sind – immer das Totschlagargument.
Das ist Quatsch. Brot,
Brötchen und Käse im Supermarkt kosten genau so viel und wenn man von
günstigen Grundstücken ausgeht, hat das eher etwas mit dem ländlichen
Raum zu tun. Den gibt es im Osten und Westen gleichermaßen“, sagt
Herrmann.
Klitzing stimmt ihr zu: „Ich habe die meiste Zeit meines
Lebens im Saarland gelebt.
Ich weiß wie günstig dort die Grundstücks-
und Baupreise sind.
Und ob ich in Saarbrücken oder Dresden lebe, bei den
allgemeinen Lebenshaltungskosten gibt es keine großen Unterschiede.“
Beide unterstützen daher die Forderungen nach gleichen
Arbeitsbedingungen und gleichem Lohn für gleiche Arbeit.
t@cker: Die
Gewerkschaften fordern in der aktuellen Einkommensrunde eine
Angleichung der Arbeitszeit Ost und West. Am 19./20. September 2020
wurden die Tarifverhandlungen für die Beschäftigten von Bund und
Kommunen bereits zum zweiten Mal ohne konkretes Angebot der
Arbeitgeberseite vertagt. Was erwartet der dbb hinsichtlich der
Unterschiede in den neuen und alten Bundesländern in der dritten
Verhandlungsrunde?
„Unsere Position: 2025 ist definitiv zu spät. Es wurde schon bei
der letzten Tarifverhandlung angeführt, dass die Ost-West-Angleichung
nicht von heute auf morgen geschehen kann.
Wir haben aber jetzt schon 30
Jahre nach der Einheit. Es ist für viele nicht mehr nachvollziehbar,
warum es diese Unterscheidung gibt“, beklagt Herrmann.
„Wir machen in
der Zeit vor der dritten Verhandlungsrunde nochmal Druck. Die
Kolleginnen und Kollegen im Osten sollen nicht für die gleiche Arbeit
weiterhin eine Stunde mehr arbeiten müssen. Die Angleichung muss
schneller gehen.“
Auf die Jugend hören
t@cker: Der
demografische Wandel schreitet fort: Die Zahl älterer Menschen nimmt
zu, die der jüngeren hingegen ab. Für die Gestaltung unseres
gesellschaftlichen Zusammenlebens ist es jedoch wichtig, die Interessen
aller Generationen zu berücksichtigen.
Was erwartet die dbb
seniorenvertretung von der Generation der Nachwendekinder?
„Ich halte grundsätzlich nichts davon, dass man meint, wenn man
die Pensionsgrenze überschritten hat, weiß man alles. Ich gebe den
Jüngeren keine gut gemeinten Ratschläge“, stellt Klitzing klar. Das
gelte für die dbb jugend genauso wie für die jüngere Generation
innerhalb der eigenen Fachgewerkschaft. „Wenn wir nach unseren
Erfahrungen aktiv gefragt werden, dann können wir natürlich gerne ins
Gespräch kommen.
Aber ich kann trotz reichlich Verbandserfahrung im Jahr
2020 der dbb jugend nicht sagen, wie sie sich inhaltlich zu
positionieren oder zu arbeiten hat.“ Die junge Generation habe andere
Möglichkeiten, stünde aber auch vor anderen Herausforderungen. „Als wir
so alt waren wie jetzt die Jugendvertretung, da gab es das Internet nur
im militärischen Bereich.
Das Wort Handy konnte man gar nicht schreiben.
Es waren entsprechend keine sozialen Medien vorhanden. Das sind aber
die Gegebenheiten, von denen man heute ausgehen muss.“ Der Gebrauch
digitaler Geräte habe die Kommunikation entscheidend verändert, auch
innerhalb einer Interessenvertretung oder einer Fachgewerkschaft.
„Ich wünsche mir, dass unsere dbb jugend auf ihre Art dazu
beiträgt, die Interessenvertretung der Fachgewerkschaften und ihrer
Mitglieder zu stärken. Das stärkt auch den Dachverband, was politisch
ein wichtiges Ziel ist. Außerdem erhoffe ich mir, dass die dbb jugend zu
innerverbandlichen Diskussionen entscheidend beiträgt. Das setzt
voraus, dass die Funktionsträger, die nicht in der Nähe des Jugendalters
sind, auch zuhören und den ein oder anderen Gedanken aufnehmen.“ Die
Vorsitzende der dbb jugend möchte da natürlich nicht widersprechen. „Ich
hoffe, dass wir uns die positiven Dinge aus dem Osten und dem Westen
bewahren und generationenübergreifend voneinander lernen“, gibt Herrmann
zum Abschluss mit."
Quelle: t@cker 10/2020, S. 7-9.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen