"dbb jugend Chefin Karoline Herrmann im Interview
Krise als Chance: „Jetzt muss es ums Ganze gehen“
Deutschlands öffentlicher Dienst braucht einen
Digitalisierungs- und Modernisierungsschub, sagt dbb jugend Chefin
Karoline Herrmann. t@cker sprach mit ihr über die Performance des Staats
bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie und über die Chancen, die die
Krise bei allen negativen Folgen bietet.
t@cker: Wie hat sich Deutschland in der Corona-Krise bislang geschlagen?
Karoline Herrmann: Tapfer.
Solidarisch. Diszipliniert. Mit gewissem Anlauf auch staatlich gut
organisiert. Weniger koordiniert als man sich das wünschen würde. Und –
mit Blick auf den öffentlichen Dienst, der in sämtlichen Bereichen seit
Monaten alles gibt, um dafür zu sorgen, dass das Land auch weiterhin
funktioniert: selbstlos, hochmotiviert und engagiert.
t@cker: Haben wir das Schlimmste hinter uns?
Karoline Herrmann: Medizinisch
kann man das zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht sagen.
Wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch denke ich<:
Das große
Aufräumen fängt gerade erst an. Denn die Pandemie und ihre Auswirkungen,
die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung und deren Folgen haben zu massiven
konjunkturellen Einbrüchen und sozialen Verwerfungen geführt, deren
Ausmaß schon heute gigantisch ist. Außerdem hat uns die Krise
schonungslos vor Augen geführt, wo unsere Defizite liegen: Personal- und
Ausstattungsmangel in vielen existenziellen Bereichen der öffentlichen
Daseinsvorsorge, fehlende digitale Infrastruktur, Kommunikations- und
Koordinierungslücken und auch eine gewisse Wertschätzungs-Unwucht, was
Standing und Bezahlung von Menschen in systemrelevanten Berufen
betrifft.
All das wird neben den weiteren Anstrengungen zur Eindämmung
des Coronavirus zu bearbeiten sein in den nächsten Monaten und Jahren.
t@cker: Das klingt nach mehr als einer Herkulesaufgabe …
Karoline Herrmann: Jammern
bringt ja nichts. Deswegen gilt es jetzt, die Ärmel hochzukrempeln und
die Dinge anzupacken. Jetzt muss es ums Ganze gehen.
Von der Klärung der
Frage, wie wir die Finanzen generationen- und geschlechtergerecht
wieder auf die Reihe bekommen, wie wir mit sozialen Ungerechtigkeiten
aufräumen und auch mit Blick auf Klima- und Umweltschutz nachhaltig
Zukunftssicherung betreiben.
t@cker: Die Krise als Chance?
Karoline Herrmann: Ja,
klar, so abgedroschen das auch klingen mag! Es wäre doch fatal, wenn wir
diesen historischen Moment, dieses von einem Virus erzwungene
Innehalten, nicht nutzen, um uns neu auszurichten, um zu lernen, um
viele Dinge besser, Schlechtes gut zu machen.
„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung“
|
t@cker: Das
setzt voraus, dass alle an einem Strang ziehen. In dem Maße, in dem die
Bilder aus Italien verblassen und die Fallzahlen-Kurve flacher wird,
ändert sich aber auch rasch wieder die Tonlage. Unternehmen und
Arbeitgeber verlangen mehr Arbeit und Zurückhaltung in Sachen Einkommen,
auf den Straßen tummeln sich Staatsgegner aller Couleur, die gar nicht
mitmachen wollen beim großen Ganzen.
Die Krise spaltet, wie sie vor
kurzem noch geeint hat – oder täuscht das?
Karoline Herrmann: Es
ist so eine Art Kreuzung, an der wir stehen: Wir müssen uns jetzt
entscheiden, ob wir den Weg weiter zusammen gehen oder zulassen wollen,
dass jeder seinen Egotrip verwirklicht. Ich für meinen Teil bin klar
fürs Gemeinschaftliche und Soziale. Ganz ohne Frage lässt die Krise
Risse innerhalb unserer Gesellschaft hervortreten – in sozialer,
wirtschaftlicher, aber auch in politischer und weltanschaulicher
Hinsicht und der Art und Weise, wie man miteinander spricht. Aber um
Risse können wir uns kümmern, sie reparieren, wenn das notwendig ist,
damit das große Ganze nicht kaputt geht.
t@cker: Was sagt die dbb jugend zu den zunehmenden Protesten gegen die
Infektionsschutzmaßnahmen?
Karoline Herrmann: Wir
sehen das sehr differenziert. Natürlich hat jeder das Recht auf eine
eigene Meinung und soll und kann die in einem Rechtsstaat auch äußern.
Verfassungs- und Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder gar blanke
Gewalt sind aber keine Meinung, und genau da ist für uns auch die rote
Linie. Wer meint, das Coronavirus sei eine Legende, um die Menschen
unter die Knute von was auch immer zu bringen und ihnen ihre Freiheiten
zu nehmen, kann sich ja gerne mal freiwillig zum Dienst im
Gesundheitsamt oder im Krankenhaus melden und sich selbst von der
Realität überzeugen.
t@cker: Also alles nur kruder Unfug, der da im Internet oder bei den Demos verbreitet wird?
Karoline Herrmann: Ich
sehe da nicht nur Leute, die an eine große Weltverschwörung glauben oder
die Grundrechte für einen persönlichen Wünsch-dir-was-Katalog halten.
Ich sehe schon auch viele, die zutiefst besorgt sind, die Angst um ihre
Existenz haben, die nicht wissen, wie sie, vielleicht als
Alleinerziehende, Kinderbetreuung und Arbeit unter einen Hut bringen
sollen. Das sind alles vollkommen nachvollziehbare und berechtigte
Standpunkte. Wir müssen die Verunsicherung vieler Menschen ernst- und
wahrnehmen.
Wir müssen herausfinden, wo die Ursachen dafür liegen, und
Lösungswege finden. Da ist insbesondere der Staat gefragt.
„In Sachen Staat besteht dringender Handlungsbedarf,
wenn uns nicht alles um die Ohren fliegen soll“
|
t@cker: Auf den Staat schimpfen doch aber alle …
Karoline Herrmann: Und genau das ist Teil des
Problems:
Seit Jahren machen die Menschen die leidvolle Erfahrung, dass
der Staat nicht da ist – in Kitas und Schulen läuft’s nicht rund, auf
Termine beim Amt muss man mitunter Monate warten, Straßen und Brücken
werden nicht gebaut, Breitband nicht verlegt, Fördergelder nicht
abgerufen, weil schlicht und ergreifend das Personal für all das fehlt.
Deutlich weniger Polizei und Nahverkehr in der Fläche, bei Feuerwehren
und Rettungsdiensten brennt’s an allen Ecken und Enden, digitale
Bürgerdienste – Fehlanzeige. Und eben jener Staat, der in vielen
Bereichen die Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger nicht mehr
erfüllt, kommt jetzt um die Ecke und verordnet. Rigide.
Macht den
Starken. Dass da nicht jeder mitgeht, ist zumindest nachvollziehbar.
Und
übrigens auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes selbst
warnen, dass die aktuelle Performance, für die alle am Anschlag und
darüber hinaus arbeiten, auf Dauer nicht zu halten sein wird. In Sachen
Staat besteht also dringender Handlungsbedarf, wenn uns nicht alles um
die Ohren fliegen soll.
Es ist eine funktionierende und von allen als
ausgewogen und gerecht empfundene Daseinsvorsorge, die Land und Leute
zusammenhält.
Und, auch darüber sollten sich alle im Klaren sein:
Auch
für eine konjunkturelle Erholung und nachhaltiges Wachstum ist ein
stabiler, handlungsfähiger öffentlicher Dienst ein wesentlicher
Grundpfeiler.
t@cker: Welche Investitionen braucht der öffentliche Dienst?
Karoline Herrmann: Menschen,
Technik und die Wertschätzung und Unterstützung derjenigen, in deren
Dienst er steht. Wir haben derzeit quer durch alle Branchen des Staats
eine Personallücke im sechsstelligen Bereich, mehr als 200.000
Beschäftigte fehlen strukturell und demografisch bedingt. Und da das
Bewerberangebot auf dem Arbeitsmarkt zunehmend knapp wird, muss der
Arbeitgeber Staat beste Konditionen bieten, wenn er die Besten für sich
gewinnen will. Dazu gehört eine leistungsgerechte Bezahlung ebenso wie
ein modernes und gesundes Arbeitsumfeld mit entsprechender technischer
Ausstattung und Möglichkeiten für flexibles und digitales Arbeiten.
Perspektiven, Fort- und Weiterbildung müssen Standard, nicht die
Ausnahme im Berufsleben sein. Natürlich kostet all das Geld. Aber wenn
wir jetzt nicht investieren, wird uns ein kaputtgesparter,
funktionsunfähiger öffentlicher Dienst weitaus mehr kosten. Diese
Erkenntnis könnte und sollte auch der Beginn einer neuen Wertschätzung
für die systemrelevanten, aber oft schlecht bezahlten und vor allem von
Frauen ausgebübten Berufe sein, von denen viele im öffentlichen Dienst
zu finden sind. Wer den Pflegenden, Betreuenden, Sichernden, Bildenden
abends auf dem Balkon für ihren Einsatz applaudiert, sollte doch auch
dafür sein, dass diese Daseinsfürsorge angemessen bezahlt wird.
Auch,
wenn das Geld dafür anteilig aus der eigenen Tasche gezahlt werden muss.
Ich bin gespannt, wie lange diese Balkon-Wertschätzung anhält…
„Wir können jetzt eine Jahrhundertchance nutzen oder einen Jahrhundertfehler machen“
|
t@cker: Ein
langer Wunschzettel – dabei ist jetzt schon klar, dass die Corona-Krise
uns teuer zu stehen kommen wird: Konjunktur- und Steuerschätzungen sind
ja denkbar düster.
Karoline Herrmann: Alles,
was wir jetzt tun oder lassen, wirkt dauerhaft in die Zukunft.
Wir
können jetzt eine Jahrhundertchance nutzen oder einen Jahrhundertfehler
machen. Selbstverständlich wird das kein Spaziergang, sondern der
vielzitierte Marathon.
Aber ich spüre vor allem bei den jungen Menschen
überwiegend eine Aufbruchstimmung. Die wollen was schaffen, was
gestalten. Und da rate ich nur allen: Bremst uns nicht aus! Lasst uns
mit anpacken, lasst uns unsere Potenziale und Talente einbringen.
Es
wäre zum Beispiel eine Schande, in dieser Phase des
Digitalisierungsschubs das Know-how der Digital Natives nicht zu nutzen,
vor allem im öffentlichen Dienst.
Und warum nicht auch agiler werden,
hergebrachte Hierarchien modernisieren und auch junge Leute in die
Entscheidungsgremien holen? Das könnte uns einen enormen
Modernisierungsgewinn bringen.
t@cker: Warum fordert Ihr so einen grundlegenden Wandel für den öffentlichen Dienst?
Quelle: t@cker-fokus 6/2020, S. 10-11
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen