Donnerstag, 18. Juni 2020

dbb jugend Vorsitzende Karoline Herrmann im t@cker-Interview: Jetzt muss es ums Ganze gehen

dbb jugend Vorsitzende Karoline Herrmann im t@cker-Interview: Jetzt muss es ums Ganze gehen

"dbb jugend Chefin Karoline Herrmann im Interview

Krise als Chance: „Jetzt muss es ums Ganze gehen“

Deutschlands öffentlicher Dienst braucht einen Digitalisierungs- und Modernisierungsschub, sagt dbb jugend Chefin Karoline Herrmann. t@cker sprach mit ihr über die Performance des Staats bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie und über die Chancen, die die Krise bei allen negativen Folgen bietet. 


t@cker: Wie hat sich Deutschland in der Corona-Krise bislang geschlagen?


Karoline Herrmann: Tapfer. Solidarisch. Diszipliniert. Mit gewissem Anlauf auch staatlich gut organisiert. Weniger koordiniert als man sich das wünschen würde. Und – mit Blick auf den öffentlichen Dienst, der in sämtlichen Bereichen seit Monaten alles gibt, um dafür zu sorgen, dass das Land auch weiterhin funktioniert: selbstlos, hochmotiviert und engagiert.


t@cker: Haben wir das Schlimmste hinter uns?


Karoline Herrmann: Medizinisch kann man das zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht sagen. Wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch denke ich<: 
Das große Aufräumen fängt gerade erst an. Denn die Pandemie und ihre Auswirkungen, die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung und deren Folgen haben zu massiven konjunkturellen Einbrüchen und sozialen Verwerfungen geführt, deren Ausmaß schon heute gigantisch ist. Außerdem hat uns die Krise schonungslos vor Augen geführt, wo unsere Defizite liegen: Personal- und Ausstattungsmangel in vielen existenziellen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge, fehlende digitale Infrastruktur, Kommunikations- und Koordinierungslücken und auch eine gewisse Wertschätzungs-Unwucht, was Standing und Bezahlung von Menschen in systemrelevanten Berufen betrifft. 
All das wird neben den weiteren Anstrengungen zur Eindämmung des Coronavirus zu bearbeiten sein in den nächsten Monaten und Jahren.


t@cker: Das klingt nach mehr als einer Herkulesaufgabe …


Karoline Herrmann: Jammern bringt ja nichts. Deswegen gilt es jetzt, die Ärmel hochzukrempeln und die Dinge anzupacken. Jetzt muss es ums Ganze gehen. 
Von der Klärung der Frage, wie wir die Finanzen generationen- und geschlechtergerecht wieder auf die Reihe bekommen, wie wir mit sozialen Ungerechtigkeiten aufräumen und auch mit Blick auf Klima- und Umweltschutz nachhaltig Zukunftssicherung betreiben.


t@cker: Die Krise als Chance?


Karoline Herrmann: Ja, klar, so abgedroschen das auch klingen mag! Es wäre doch fatal, wenn wir diesen historischen Moment, dieses von einem Virus erzwungene Innehalten, nicht nutzen, um uns neu auszurichten, um zu lernen, um viele Dinge besser, Schlechtes gut zu machen. 


„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung“


t@cker: Das setzt voraus, dass alle an einem Strang ziehen. In dem Maße, in dem die Bilder aus Italien verblassen und die Fallzahlen-Kurve flacher wird, ändert sich aber auch rasch wieder die Tonlage. Unternehmen und Arbeitgeber verlangen mehr Arbeit und Zurückhaltung in Sachen Einkommen, auf den Straßen tummeln sich Staatsgegner aller Couleur, die gar nicht mitmachen wollen beim großen Ganzen. 
Die Krise spaltet, wie sie vor kurzem noch geeint hat – oder täuscht das?


Karoline Herrmann: Es ist so eine Art Kreuzung, an der wir stehen: Wir müssen uns jetzt entscheiden, ob wir den Weg weiter zusammen gehen oder zulassen wollen, dass jeder seinen Egotrip verwirklicht. Ich für meinen Teil bin klar fürs Gemeinschaftliche und Soziale. Ganz ohne Frage lässt die Krise Risse innerhalb unserer Gesellschaft hervortreten – in sozialer, wirtschaftlicher, aber auch in politischer und weltanschaulicher Hinsicht und der Art und Weise, wie man miteinander spricht. Aber um Risse können wir uns kümmern, sie reparieren, wenn das notwendig ist, damit das große Ganze nicht kaputt geht. 


t@cker: Was sagt die dbb jugend zu den zunehmenden Protesten gegen die 
Infektionsschutzmaßnahmen?


Karoline Herrmann: Wir sehen das sehr differenziert. Natürlich hat jeder das Recht auf eine eigene Meinung und soll und kann die in einem Rechtsstaat auch äußern. Verfassungs- und Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder gar blanke Gewalt sind aber keine Meinung, und genau da ist für uns auch die rote Linie. Wer meint, das Coronavirus sei eine Legende, um die Menschen unter die Knute von was auch immer zu bringen und ihnen ihre Freiheiten zu nehmen, kann sich ja gerne mal freiwillig zum Dienst im Gesundheitsamt oder im Krankenhaus melden und sich selbst von der Realität überzeugen.


t@cker: Also alles nur kruder Unfug, der da im Internet oder bei den Demos verbreitet wird?


Karoline Herrmann: Ich sehe da nicht nur Leute, die an eine große Weltverschwörung glauben oder die Grundrechte für einen persönlichen Wünsch-dir-was-Katalog halten. 
Ich sehe schon auch viele, die zutiefst besorgt sind, die Angst um ihre Existenz haben, die nicht wissen, wie sie, vielleicht als Alleinerziehende, Kinderbetreuung und Arbeit unter einen Hut bringen sollen. Das sind alles vollkommen nachvollziehbare und berechtigte Standpunkte. Wir müssen die Verunsicherung vieler Menschen ernst- und wahrnehmen. 
Wir müssen herausfinden, wo die Ursachen dafür liegen, und Lösungswege finden. Da ist insbesondere der Staat gefragt. 

„In Sachen Staat besteht dringender Handlungsbedarf, wenn uns nicht alles um die Ohren fliegen soll“


t@cker: Auf den Staat schimpfen doch aber alle …


Karoline Herrmann: Und genau das ist Teil des Problems: 
Seit Jahren machen die Menschen die leidvolle Erfahrung, dass der Staat nicht da ist – in Kitas und Schulen läuft’s nicht rund, auf Termine beim Amt muss man mitunter Monate warten, Straßen und Brücken werden nicht gebaut, Breitband nicht verlegt, Fördergelder nicht abgerufen, weil schlicht und ergreifend das Personal für all das fehlt. 
Deutlich weniger Polizei und Nahverkehr in der Fläche, bei Feuerwehren und Rettungsdiensten brennt’s an allen Ecken und Enden, digitale Bürgerdienste – Fehlanzeige. Und eben jener Staat, der in vielen Bereichen die Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger nicht mehr erfüllt, kommt jetzt um die Ecke und verordnet. Rigide. 
Macht den Starken. Dass da nicht jeder mitgeht, ist zumindest nachvollziehbar. 
Und übrigens auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes selbst warnen, dass die aktuelle Performance, für die alle am Anschlag und darüber hinaus arbeiten, auf Dauer nicht zu halten sein wird. In Sachen Staat besteht also dringender Handlungsbedarf, wenn uns nicht alles um die Ohren fliegen soll. 
Es ist eine funktionierende und von allen als ausgewogen und gerecht empfundene Daseinsvorsorge, die Land und Leute zusammenhält. 
Und, auch darüber sollten sich alle im Klaren sein: 
Auch für eine konjunkturelle Erholung und nachhaltiges Wachstum ist ein stabiler, handlungsfähiger öffentlicher Dienst ein wesentlicher Grundpfeiler.


t@cker: Welche Investitionen braucht der öffentliche Dienst?


Karoline Herrmann: Menschen, Technik und die Wertschätzung und Unterstützung derjenigen, in deren Dienst er steht. Wir haben derzeit quer durch alle Branchen des Staats eine Personallücke im sechsstelligen Bereich, mehr als 200.000 Beschäftigte fehlen strukturell und demografisch bedingt. Und da das Bewerberangebot auf dem Arbeitsmarkt zunehmend knapp wird, muss der Arbeitgeber Staat beste Konditionen bieten, wenn er die Besten für sich gewinnen will. Dazu gehört eine leistungsgerechte Bezahlung ebenso wie ein modernes und gesundes Arbeitsumfeld mit entsprechender technischer Ausstattung und Möglichkeiten für flexibles und digitales Arbeiten. Perspektiven, Fort- und Weiterbildung müssen Standard, nicht die Ausnahme im Berufsleben sein. Natürlich kostet all das Geld. Aber wenn wir jetzt nicht investieren, wird uns ein kaputtgesparter, funktionsunfähiger öffentlicher Dienst weitaus mehr kosten. Diese Erkenntnis könnte und sollte auch der Beginn einer neuen Wertschätzung für die systemrelevanten, aber oft schlecht bezahlten und vor allem von Frauen ausgebübten Berufe sein, von denen viele im öffentlichen Dienst zu finden sind. Wer den Pflegenden, Betreuenden, Sichernden, Bildenden abends auf dem Balkon für ihren Einsatz applaudiert, sollte doch auch dafür sein, dass diese Daseinsfürsorge angemessen bezahlt wird. 
Auch, wenn das Geld dafür anteilig aus der eigenen Tasche gezahlt werden muss. 
Ich bin gespannt, wie lange diese Balkon-Wertschätzung anhält… 


„Wir können jetzt eine Jahrhundertchance nutzen oder einen Jahrhundertfehler machen“


t@cker: Ein langer Wunschzettel – dabei ist jetzt schon klar, dass die Corona-Krise uns teuer zu stehen kommen wird: Konjunktur- und Steuerschätzungen sind ja denkbar düster.

Karoline Herrmann: Alles, was wir jetzt tun oder lassen, wirkt dauerhaft in die Zukunft. 
Wir können jetzt eine Jahrhundertchance nutzen oder einen Jahrhundertfehler machen. Selbstverständlich wird das kein Spaziergang, sondern der vielzitierte Marathon. 
Aber ich spüre vor allem bei den jungen Menschen überwiegend eine Aufbruchstimmung. Die wollen was schaffen, was gestalten. Und da rate ich nur allen: Bremst uns nicht aus! Lasst uns mit anpacken, lasst uns unsere Potenziale und Talente einbringen. 
Es wäre zum Beispiel eine Schande, in dieser Phase des Digitalisierungsschubs das Know-how der Digital Natives nicht zu nutzen, vor allem im öffentlichen Dienst. 
Und warum nicht auch agiler werden, hergebrachte Hierarchien modernisieren und auch junge Leute in die Entscheidungsgremien holen? Das könnte uns einen enormen Modernisierungsgewinn bringen.


t@cker: Warum fordert Ihr so einen grundlegenden Wandel für den öffentlichen Dienst?

Karoline Herrmann: Weil wir müssen. Der öffentliche Dienst wird nur mit einer nachhaltigen Modernisierung zukunftsfest. Und das muss er sein – spätestens, wenn die nächste Krise kommt."

Quelle: t@cker-fokus 6/2020, S. 10-11


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