Dienstag, 26. Mai 2020

t@cker-focus 5/2020: Systemrelevante Berufe - Wertediskussion

t@cker-focus 5/2020: Systemrelevante Berufe - Wertediskussion

In der Corona-Krise rücken die sog. Systemrelevanten Berufe (der öffentliche Dinst) in den Focus: Wieviel ist uns diese Arbeit als Gesellschaft wert?

"Systemrelevante Berufe

Die Wert(e)-Diskussion

In Zeiten der Corona-Krise zeigt sich: Bestimmte Berufsgruppen und Bereiche des öffentlichen und sozialen Lebens sind systemrelevant. Dazu zählen beispielsweise das Gesundheitswesen, die innere Sicherheit, die Grund- und Lebensmittelversorgung, Kindernotbetreuung oder der Erhalt der Verkehrs- und IT-Infrastruktur. 
Die große Mehrheit der als systemrelevant definierten Berufe weist jedoch außerhalb von Krisenzeiten ein geringes gesellschaftliches Ansehen sowie eine unterdurchschnittliche Bezahlung auf, ermittelte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Beschäftigte, Gewerkschaften und auch Wirtschaftsexperten fordern, dass auf kollektive Dankbarkeit konkrete Maßnahmen folgen müssen.

„Euren Applaus könnt Ihr euch sonst wohin stecken.“ Nina Magdalena Böhmer, 28, Krankenpflegerin in Berlin, fand im März auf ihrem Facebook-Account deutliche Worte für die öffentlichen Applaus-Aktionen, zu denen sich in den Tagen der Corona-Krise tausende Menschen allabendlich auf Balkonen und Straßen verabreden, um den „Helden“ Böhmer für ihren Einsatz. „Ich weiß, er ist als nette Geste gemeint. Aber glaubt mir: 
Es verändert absolut nichts“, sagte die Krankenpflegerin dem Berliner „Tagesspiegel“. 
Seit sie 16 ist, arbeitet sie in der Pflege. „Ich habe eigentlich so einen schönen Beruf. 
Oft gehe ich glücklich nach Hause, weil ich daran mitwirken konnte, dass es Menschen besser geht. Oft habe ich aber auch ein schlechtes Gewissen, weil ich dem nachfolgenden Dienst Arbeit übriggelassen, einfach nicht alles geschafft habe. Rückenschmerzen habe ich fast immer und schlaflose Nächte oft genug. Manchmal mache ich mir Sorgen um einzelne Patienten, manchmal ist es nur der Schichtdienst, der mich wachliegen lässt“, berichtete Böhmer. Mit Blick auf die Entscheidung, zur Behandlung von Covid19-Patienten in den Kliniken die Personaluntergrenzen für bestimmte Stationen aufzuheben, stellte die Krankenpflegerin klar: „Natürlich ist das jetzt eine Ausnahmesituation, aber es war doch vorher schon kaum zu schaffen. Wir sind keine Maschinen! Der Pflegenotstand ist ja seit Jahren bekannt. Es gab Berichte, Talkshowdiskussionen, passiert ist nix.“ 
Sicher sei sie sich nicht, dass sich durch die Corona-Krise für ihre Berufsgruppe langfristig etwas ändern würde. „Ich hätte gerne mehr Zeit, um meinen Patienten zuzuhören. 
Ich möchte nicht warten müssen, um einen übergewichtigen Mann umlagern zu können. 
Ich hätte gern Hilfe, wenn ich jemanden vom Bett in den Rollstuhl hebe. Ich wünsche mir, dass die Versorgung an erster Stelle steht und nicht die Fallpauschale“, so die Berlinerin.


Altenpflegende: Alleine mit 80 Patienten



Es sei absurd, dass Stationen mehr Patienten aufnehmen, als sie eigentlich Kapazität haben, weil sie sonst kein Geld verdienen. Im Altenpflegebereich sehe die Situation nicht besser aus – manchmal seien die Kolleginnen und Kollegen alleine mit 80 Patienten.
„Wir haben so viel Verantwortung, es dürfen keine Fehler passieren. 
Aber dann klingelt schon wieder ein Patient und schwupps hat man vergessen, was man sich gerade aufschreiben wollte. Toll wäre es, ich hätte nur zehn oder sogar fünf Patienten, für die ich zuständig wäre. Dann hätte ich Spaß an der Arbeit.“ Zur Attraktivität der Pflegeberufe gehöre natürlich „sehr wohl auch Geld“, sagte Böhmer ganz deutlich. 
„Der Bruttostundenlohn in systemrelevanten Berufen wie meinem liegt um 15 bis 20 Prozent niedriger als in nicht systemrelevanten Berufen. Wir wollen auch mal reisen, uns etwas ansparen.“ Die Forderung der Krankenpflegerin aus Berlin an die Applaudierenden: 
„Wenn Ihr uns helfen wollt, dann klatscht nicht, singt nicht, unterschreibt lieber eine Online-Petitionen und wählt Parteien, die sich für uns einsetzen.“




Wer oder was ist systemrelevant?

Der zunächst in der Finanzkrise ab 2007 aufgetauchte Begriff „systemrelevant“ ist mit der COVID-19-Pandemie wieder zurück: Er benennt, derzeit verbunden mit konkreten Rechtsfolgen, Berufsgruppen, deren Tätigkeit für ein funktionierendes Gemeinwesen unerlässlich ist. Welche Berufe als systemrelevant gelten, entscheiden final die Bundesländer im Wege von Allgemeinverfügungen. Je nach Land sehen die Listen daher ein bisschen unterschiedlich aus, grundsätzlich werden aber folgende Sektoren benannt: Ernährung und Hygiene, Produktion und Handel (Groß- und Einzelhandel) nebst Vertriebsketten und Logistik, Elektrizitäts-, Gas-, Wasser- und Treibstoffversorgung, Abfallwirtschaft, Informationstechnik und Kommunikation, Massenmedien, Gesundheit, Öffentliche Sicherheit, Transport und Verkehr, Finanz- und Versicherungswesen sowie Staat und Verwaltung. 


Geringes Ansehen führt zu schlechter Bezahlung

So wohltuend der Dank für die Menschen in all diesen Berufen nun während der akuten Corona-Pandemie ist, sieht die gesellschaftliche Realität jenseits der Krise anders aus. 
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat das gesellschaftliche Ansehen von systemrelevanten Berufen untersucht: „Das gesellschaftliche Ansehen vieler systemrelevanter Berufe, also Krankenpfleger, Altenpfleger, Reinigungskräfte, Sicherheit, aber auch Verkäufer im Supermarkt ist relativ gering“, sagt Marcel Fratzscher, DIW-Direktor.
 

DIW-Chef Marcel Fratzscher wünscht sich, „dass uns bewusst wird, was uns als Gesellschaft wichtig ist, was wir brauchen und auch mehr wertschätzen sollten in unserem tagtäglichen Leben, und dazu gehören Menschen, die in systemrelevanten Berufen tätig sind“.

Dieses geringe Ansehen hat vielfältige Ursachen. 
Es sind im Alltag als selbstverständlich hingenommene Serviceleistungen. 
Und es sind häufig Berufe, für die keine höhere Bildung nötig ist. Mit dem geringen Ansehen einher geht, auch das hat das DIW ermittelt, eine schlechte Bezahlung. 
Der durchschnittliche Bruttostundenlohn in systemrelevanten Berufen liegt bei 17,50 Euro, bei allen anderen Berufsgruppen liegt er bei über 20 Euro pro Stunde. 

Fratzscher: „Die DIW-Studie zeigt, dass 90 Prozent der Beschäftigten in systemrelevanten Berufen unterdurchschnittlich verdienen.“ In der Altenpflege liegt der Stundendurchschnitt sogar deutlich unter 15 Euro. Supermarktverkaufskräfte haben häufig nur knapp über 9, 35 Euro Mindestlohn. Und bei den 17,50 Euro Durchschnittseinkommen in systemrelevanten Berufen muss noch berücksichtigt werden, dass hier auch die Gehälter u.a. der (ebenfalls systemrelevanten) Ärzte einfließen – deutlich über 30 Euro/Stunde. 
Heißt: Die Masse der Beschäftigten verdient noch deutlich weniger. DIW-Chef Fratzscher wünscht sich, „dass uns bewusst wird, was uns als Gesellschaft wichtig ist, was wir brauchen und auch mehr wertschätzen sollten in unserem tagtäglichen Leben, und dazu gehören Menschen, die in systemrelevanten Berufen tätig sind.“




Die DIW-Zahlen bestätigen auch die Analysten der Vergleichsplattform „Gehalt.de“. 
Sie haben anhand von 19.659 Datensätzen die Einkommen systemrelevanter Berufe, die häufig „im Verborgenen“ arbeiten, untersucht. 
Das Ergebnis: Die Vergütung ist oftmals vergleichsweise gering. 

In dem Ranking beziehen Ingenieure in der Biotechnologie mit 52.100 Euro das höchste Einkommen. Medizinisch-technische Laboratoriumsassistenten (35.100 Euro) und Laboranten (38.800 Euro) verdienen deutlich weniger. 
Diese Fachkräfte testen auf Krankheitserreger und forschen in Laboren, was aktuell für die Eindämmung des Virus essentiell ist. 
Zum Vergleich: Das Jahresgehalt von Fachkräften in Deutschland beträgt im Median rund 43.200 Euro im Jahr. Reinigungskräfte belegen mit 28.900 Euro im Jahr den vorletzten Platz der Erhebung. 
„Um die Verbreitung von Viren zu verhindern, sind wir stark auf Reinigungskräfte angewiesen. Diese arbeiten aufgrund des verstärkten Personalabbaues und Outsourcings der letzten Jahre zum Teil unter schlechten Bedingungen und in vielen Fällen für ein niedriges Gehalt“, so Philip Bierbach, Geschäftsführer von „Gehalt.de“.
Netzwerkadministratoren ermöglichen aktuell für viele Beschäftigte das Arbeiten im Homeoffice. Diese beziehen rund 43.200 Euro im Jahr. Auch Elektroniker können ihre Arbeit nicht niederlegen. Ihr Jahreseinkommen liegt bei rund 39.400 Euro. 
„Digitale Technologien sorgen in dieser Krisensituation dafür, dass der Betrieb vieler Unternehmen, Schulen oder Behörden aufrechterhalten werden kann – Netzwerkadministratoren oder Elektrotechniker übernehmen hier eine Schlüsselfunktion“, so Bierbach.




Darüber hinaus setzen auch Sozialarbeiter ihre Tätigkeit fort, um Bedürftige im Alltag weiterhin zu unterstützen. Hierfür erhalten sie rund 39.700 Euro im Jahr. 
Hebammen und Entbindungspfleger müssen ebenfalls unter erschwerten Bedingungen Mütter und Neugeborene betreuen. Ihr Gehalt liegt bei 38.600 Euro. Während der Coronavirus-Krise „agieren aktuell viele ‚versteckte Heldinnen und Helden‘ im Hintergrund. Leider spiegelt sich diese Relevanz weder in der gesellschaftlichen Wertschätzung noch im Gehalt angemessen wieder“, so Bierbachs Bilanz.


Arbeitsminister: Für bessere Bezahlung sorgen

Dass das Problem – das Beschäftigte und Gewerkschaften wohlgemerkt schon seit Jahren zum Thema machen – mittlerweile durchaus in der Politik angekommen ist, zeigen etwa Aussagen etwa von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil: „Wir sehen gerade in dieser Zeit, dass die Leistungsträger nicht immer die sind mit Anzug und Krawatte, sondern die im Kittel, die in der Altenpflege, vor allen Dingen auch in der Krankenpflege arbeiten und die sich um die Schwächsten kümmern. Und das sind die Kassiererinnen, über die so viel gesprochen wird, die brauchen tatsächlich mehr als Applaus und Merci-Schokolade, die brauchen einfach bessere Bezahlung, dafür müssen wir sorgen.“




Es könnte also eine der positiven Folgen der Corona-Krise sein, dass die Menschen, die den Alltag sichern, selbst ein Stück mehr Sicherheit bekommen, mit besserem Lohn und weniger prekären Arbeitsverhältnissen. Insbesondere, weil es vor allem auch Frauen sind, die in den systemrelevanten, aber oft schlecht bezahlten Berufen tätig sind, was mit zum vielzitierten Gender Pay-Gap führt und ein strukturelles Problem der Gleichstellung ist.


Prämien ändern keine strukturellen Probleme

Rufe nach Sonderzahlungen, am besten steuerfrei, wurden laut, etwa für das Pflegepersonal, und auch teilweise bereits umgesetzt, so in Bayern und perspektivisch auch bundesweit: Ende April arbeitete eine von Arbeitsminister Hubertus Heil und Gesundheitsminister Jens Spahn beauftragte Sozialpartner-Kommission einen konkreten Vorschlag aus, nach dem die Kerngruppe der Pflegekräfte mit dem Juli-Gehalt zusätzlich eine steuer- und abgabenfreie Sonderzahlung von 1.500 Euro erhalten soll, ebenso etwa Hausmeister, Hauswirtschafts-, Wäscherei- oder Sicherheitspersonal (1.000 Euro), für Auszubildende soll es 900 Euro geben. Freilich noch nicht geklärt: die Finanzierung.




Die große Frage: Reichen solche Prämien überhaupt aus? 
„Ein Zuschlag zu den meist niedrigen Löhnen wäre das Mindeste“, machte Sozialwissenschaftler Stefan Sell, Professor an der Hochschule Koblenz, in der ARD deutlich. „Aber an den strukturellen Problemen löst er nichts.“ 
Vielmehr müsse man grundsätzlich über die Vergütung sprechen. 
Denn in Dienstleistungsbranchen wie der Altenpflege oder dem Einzelhandel würden immer weniger Unternehmen nach Tarif zahlen. Seit Mitte der Neunziger Jahre habe es in diesen Bereichen eine regelrechte Tarifflucht geben. Deswegen fordern Beschäftigte und Gewerkschaften schon lange mehr allgemeingültige Tarifverträge, die dann für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber einer Branche gelten. Für Bundesarbeitsminister Heil steht jedenfalls fest: „Eine langfristige Konsequenz wird sein, dass wir für soziale Dienstleistung, für Gesundheit, für Pflege auch in diesem Land mehr Geld ausgeben müssen. Das ist eine Lehre, die wir aus dieser Krise zu ziehen haben.“ Auch Sozialwissenschaftler Sell sieht in der Besserstellung systemrelevanter Berufsgruppen einen finanziellen Kraftakt, der von der gesamten Gesellschaft getragen werden müsse: „Das bedeutet höhere Abgaben.“


dbb jugend: „Applaus zahlt keine Miete“




„Wenn man dieser verheerenden Epidemie irgendetwas Positives abgewinnen kann, dann wohl die breite Erkenntnis der Gesellschaft, wie wichtig die systemrelvanten Berufe in unserem Land und unserer Gesellschaft sind und unter welchen Arbeits- und Einkommensbedingungen sie tagein, tagaus, Jahr für Jahr, bei Wind und Wetter dafür sorgen, dass der Laden läuft“, sagt Karoline Herrmann, Vorsitzende der dbb jugend. 
Die Anerkennung und der Applaus seien eine schöne Anerkennung und Geste der Wertschätzung. „Wieviel Überzeugung dahintersteckt, wird sich aber erst zeigen müssen“, ist Herrmann sekptisch. „Ob die Bevölkerung immer noch für die ‚Corona-Helden‘ klatscht, wenn sie für deren Besserstellung ins eigene Portemonnaie greifen muss? 
Zum Beispiel in Form von steigenden Lebensmittelpreisen oder höheren Beiträgen in der Kranken- und Pflegeversicherung? Dieser Moment der Wahrheit wird kommen, und wir als Interessenvertretung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes mit den meisten systemrelevanten Berufen erleben diesen Moment alle Jahre wieder bei den Einkommensrunden, wo es dann heißt ‚Schwarze Null‘, Konsolidierung und so weiter.“


„Applaus zahlt keine Miete“, sagt dbb jugend Chefin Karoline Herrmann und fordert „eine ehrliche Werte- und Wertdiskussion darüber, wie dieses Land zukünftig jene Menschen behandeln will, die sich in den Dienst der Allgemeinheit stellen“.

Da die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise heute noch gar nicht abzuschätzen, aber ganz sicher nicht zu unterschätzen seien, sei es fraglich, ob die Stimmung der materiell gebeutelten öffentlichen Arbeitgeber und der Bevölkerung dann nicht auch ganz schnell wieder kippe und es wieder einmal nur bei den Lippenbekenntnissen bliebe, so Herrmann. „Wir werden jedenfalls nicht lockerlassen und unserer Linie treu bleiben: Gutes Geld für gute Arbeit. Die Menschen dürfen gerne weiter klatschen für die Kolleginnen und Kollegen. Aber allen muss klar sein: Applaus zahlt keine Miete. 
Und wenn beispielsweise noch nicht einmal für das medizinische Personal, aber auch bei den Einsatzkräften von Feuerwehr, Polizei und Zoll, in den Ordnungsämtern, Verwaltungen und Schulen genügend Schutzausrüstungen und Desinfektionsmittel vorhanden sind, müssen sich alle fragen: Geht man so mit seinen ‚Helden' um? Seit Jahren werden sie oft nicht einmal mit dem Nötigsten ausstattet, erhalten anstelle von Respekt und Wertschätzung immer wieder nur fadenscheinige Ausreden, müssen sich anpöbeln lassen und werden immer öfter auch tätlich angegriffen. Seit Jahren ist es der breiten Öffentlichkeit einfach total egal, dass sie unterbezahlt und ausgelaugt sind, dass ihre Arbeitnehmerrechte und Bedürfnisse missachtet werden. Deswegen wünschen wir uns die Krise als Start einer ehrlichen Werte- und Wertdiskussion darüber, wie dieses Land zukünftig jene Menschen behandeln will, die sich in den Dienst der Allgemeinheit stellen“, macht die dbb jugend Chefin deutlich."

Quelle: t@cker-focus 5/2020, S. 10-12.






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