Donnerstag, 12. März 2020

t@cker-inside 3/2020: Händeringende Suche nach Personal - Öffentlicher Gesundheitsdienst: Patient in Not

t@cker-inside 3/2020: Händeringende Suche nach Personal - Öffentlicher Gesundheitsdienst: Patient in Not


"Händeringende Suche nach Personal

Öffentlicher Gesundheitsdienst: Patient in Not


Am Anschlag: Im Öffentlichen Gesundheitsdienst fehlt der Nachwuchs – Amtsärztinnen und Amtsärzte werden verzweifelt gesucht.

Der Öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland – die so genannte „dritte Säule“ des Gesundheitssystems rückt immer dann verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, wenn große Teile der Bevölkerung mit gesundheitlichen Gefahren und Herausforderungen konfrontiert sind. Jüngstes Beispiel: Das Corona-Virus, das sich, ausgehend von China, seit Ende 2019 rasant rund um den Globus ausbreitet, woraufhin die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ – den Gesundheitsnotstand – erklärte. 
Spätestens seit den ersten Infektionen in Deutschland ist auch der Öffentliche Gesundheitsdienst in den Gesundheitsämtern bundesweit in Habachtstellung – zusätzlich zum „Alltagsgeschäft“. 
Doch allein dieses kann zunehmend kaum noch von den knapp 2.500 Amtsärztinnen und Amtsärzten gestemmt werden: Hunderte Stellen sind unbesetzt, medizinischer Nachwuchs geht wegen des deutlich schlechteren Einkommens im öffentlichen Dienst lieber in Praxen und Kliniken. 
Der Öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland – er ist selbst ein Patient in Not.

Amtsärztinnen und Amtsärzte überwachen die Infektionshygiene in Krankenhäusern und Arztpraxen, führen Schuleingangsuntersuchungen und Impfberatungen durch, ebenso die Tauglichkeitsuntersuchungen für künftige Beamtinnen und Beamte, stellen Gutachten, unter anderem in Asylverfahren aus und beraten Prostituierte in Gesundheitsfragen. Hinzu kommen aufsuchende Hilfen für Menschen, die keine Wohnung haben, oder schwer psychisch Kranke. In den knapp 400 Gesundheitsämtern sind insgesamt etwa 17.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Was seit Jahren bekannt ist und von Ärzteverbänden und Gewerkschaften permanent kritisiert wird, ist die zunehmend schwerer werdende, bisweilen vollkommen erfolglose Suche nach medizinischem Nachwuchs. 
Aus der Ärztestatistik der Bundesärztekammer geht hervor, dass die Zahl der berufstätigen Fachärztinnen und Fachärzte für Öffentliches Gesundheitswesen als nahezu einziger Facharztgruppe in den letzten Jahren deutlich rückläufig ist, verbunden mit einem erheblichen Nachwuchsmangel und einer hohen Zahl unbesetzter Stellen bei den Gesundheitsämtern. 


Amtsärztinnen und Amtsärzte führen Schuleingangsuntersuchungen und Tauglichkeitsuntersuchungen für künftige Beamtinnen und Beamte durch, überwachen die Infektionshygiene in Krankenhäusern und Arztpraxen und vieles mehr. 
Der Öffentliche Gesundheitsdienst ist neben den niedergelassenen Praxen und Kliniken die dritte Säule des Gesundheitssystems in Deutschland – in den knapp 400 Gesundheitsämtern sind insgesamt etwa 17.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.

Neubesetzung von Stellen: Fehlanzeige

Im Sommer 2019 schlug beispielsweise in Berlin Falko Liecke, Gesundheitsstadtrat in Neukölln, Alarm. „Ab September haben wir keine Amtsärzte mehr im Bezirk“, kündigte der CDU-Politiker in der „Berliner Morgenpost“ an – neben dem bisherigen Leiter des Gesundheitsamts ging auch dessen Stellvertreter in den Ruhestand. Neubesetzung der Stellen – bislang Fehlanzeige. 
Den Grund, weshalb er trotz mehrfachen Stellenausschreibungen keinen neuen Amtsarzt findet, kennt der Gesundheitsstadtrat: Geld. „Wir bezahlen einfach zu schlecht“, so Liecke. Mit knapp über 4.000 Euro im Monat verdient ein Amtsarzt zwischen 1.000 und 1.500 Euro weniger als ein Klinikarzt. Er hätte einen Bewerber aus Schleswig-Holstein gehabt, den er mit Kusshand eingestellt hätte. Der aber lehnte ab – obwohl er als Chef des Gesundheitsamtes Neukölln einen riesen Karrieresprung gemacht hätte. 
Aber: „Er hätte bei uns 20.000 Euro weniger verdient im Jahr – da ist die Absage völlig verständlich“, sagt Liecke in der Morgenpost. 
Auch andere Bezirke in der Hauptstadt leiden unter dem verheerenden Amtsärzte-Mangel. Laut Liecke wird es vermutlich ab 2022 nur noch in vier Bezirken – Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinickendorf, Spandau und Tempelhof-Schöneberg – Amtsärzte geben, in den anderen neun Stadtteilen gingen in den kommenden drei Jahren alle Amtsärzte in Ruhestand. Insgesamt seien 20 Prozent der aktuell rund 350 in den Berliner Bezirksverwaltungen und einzelnen Bereichen der Hauptverwaltungen bestehenden Ärztestellen nicht besetzt. 
Die Leitung des Neuköllner Gesundheitsamtes übernahm im letzten Jahr provisorisch ein Kinderarzt. Liecke: „Wir befinden uns damit schon in einer Grauzone.“ 
Der Mediziner ist eigentlich ärztlicher Bereichsleiter im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Neukölln und verantwortlich für die gesundheitliche Entwicklung von 30.000 Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre. Eine passende Facharztausbildung für die Stelle eines Amtsarztes fehlt ihm ...
Zwischenzeitlich arbeitet Berlin verschärft an einer Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes: In einer Aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses zur Lage rund um das Coronavirus Ende Februar teilte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci mit, dass man den Amtsärztinnen und Amtsärzten in der Hauptstadt nun ebenso viel Geld bezahle wie den Medizinern in den Krankenhäusern. 
Dies bedeute eine Gehaltserhöhung von bis zu 1.500 Euro. 
Die Koalition hoffe nun, mehr Mediziner für die Bezirksämter und auch für die Feuerwehr zu gewinnen. Aktuell gebe es zwar noch immer 62 offene Stellen in den Gesundheitsbehörden der Bezirke, das seien aber weniger als zuletzt, so Kalayci. 


Neukölln schlägt Alarm: Gesundheits-Stadtrat Falko Liecke findet kaum noch Amtsärztinnen und Amtsärzte für seinen Bezirk. Der psychiatrische Notdienst des Gesundheitsamtes, zuständig etwa bei Polizeieinsätzen im Zusammenhang mit psychisch kranken Menschen, fällt zum Beispiel streckenweise komplett aus, weil kein Facharzt zur Verfügung steht.

Frankfurt wirbt um Medizin-Studierende

Auch in der Main-Metropole Frankfurt ist die Nachwuchsgewinnung für den Öffentlichen Gesundheitsdienst ein Dauer-Thema. Das dortige Gesundheitsamt mit seinen über 250 Mitarbeitenden ist eines der größten Gesundheitsämter in Deutschland – und sucht, wer wollte sich da wundern, ebenfalls händeringend Ärztinnen und Ärzte für die Sicherstellung verschiedenster Gesundheitsangebote für die Bevölkerung. 
Neben dem Einsatz für eine bessere Bezahlung bemühen sich die Hessen unterdessen auch anderweitig um den Berufsnachwuchs: direkt an den medizinischen Hochschulen. 
Seit 2013 ist das Frankfurter Gesundheitsamt akademische Lehreinrichtung für Ärztinnen und Ärzte im Praktischen Jahr (PJ). Pädiatrie, Gynäkologie, Neurologie, Dermatologie – Jahr für Jahr grübeln angehende Mediziner über das „richtige“ Wahlfach im Praktischen Jahr (PJ) ihres Studiums. Ins Gesundheitsamt verschlug es dagegen bislang nie jemanden. Zum einen, weil der Beruf der Amtsärztin/des Amtsarztes an den Fakultäten weithin unbekannt ist. Zum anderen gab es schlicht keine akademische Kooperation mit Gesundheitsämtern. Bis René Gottschalk, Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts, gemeinsam mit der Johann Wolfgang Goethe-Universität eine ebensolche Zusammenarbeit auf die Beine stellte. Im August 2013 begrüßte er die bundesweit erste Medizinstudentin, die im Rahmen ihres PJ ein Ausbildungstertial im Öffentlichen Gesundheitsdienst absolvierte. PJ-lerin Regina Ellwanger sagte damals der „Ärztezeitung“: „Im Studium spielt der Öffentliche Gesundheitsdienst nur eine sehr geringe Rolle. Ich habe es vermisst, Themen wie die gesellschaftlichen Aufgaben und den politischen Kontext des ärztlichen Handelns im Studium zu bearbeiten.“ Daher habe sie die Möglichkeit im Frankfurter Gesundheitsamt sofort interessiert. 
Die Aufwertung als akademische Lehreinrichtung kann dem Öffentlichen Gesundheitsdienst nur guttun, so auch die einhellige Meinung aller Beteiligten in Frankfurt. 
Unstrittig sei, dass das Amt mit etwa 250 Mitarbeitenden, darunter mehr als 50 Ärztinnen und Ärzte in fünf Fachabteilungen (Medizinische Dienste, Kinder- und Jugendmedizin, Zahnmedizin, Psychiatrie, Infektiologie und Hygiene), anspruchsvolle Rahmenbedingungen bietet, um Medizinstudierenden einen Einblick in das Berufsfeld zu vermitteln. 
Regina Ellwangers seinerzeitiges Fazit nach vier Monaten im Gesundheitsamt: 
„Die Zeit war bis jetzt sehr spannend. Ich kann durch die verschiedenen Abteilungen rotieren und komme dadurch mit den unterschiedlichsten Fachrichtungen und Tätigkeiten in Berührung. In der Tat bin ich überrascht, wie vielfältig die Aufgaben des Gesundheitsamtes sind und wie viel direkten Patientenkontakt es hier gibt.“ Nachdem sich auf die PJ-Pionierin im Frankfurter Gesundheitsamt bereits mehrere weitere interessierte Jung-Medizinerinnen und -Mediziner gemeldet haben, ist die Hoffnung da, mit der Kooperation einen kleinen Schritt Richtung nachhaltige Nachwuchsgewinnung gemacht zu haben. 
„Wir wollen mit dem PJ vor allem für den Öffentlichen Gesundheitsdienst werben“, sagt Amtschef Gottschalk. „Wir wollen zeigen, dass wir als Amtsärzte subsidiär tätig sind, wir wollen die jungen Leute für unseren Beruf begeistern.“ 
Das Problem sei der Facharztmangel. Der Öffentliche Gesundheitsdienst sei kein Thema im Medizinstudium, es gibt zudem keinen einzigen Lehrstuhl in Deutschland für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Pro Jahr erwerben im Durchschnitt gerade einmal etwas mehr als 30 Ärztinnen und Ärzte einen entsprechenden Facharzt (für öffentliches Gesundheitswesen). Die Ursache dafür liegt neben dem verbesserungsbedürftigen Bekanntheitsgrad und Image dieser Fachrichtung („Verwaltungsärzte“ ist nur eine der despektierlichen Begrifflichkeiten, die immer wieder auftauchen) selbstredend auch im bereits beschriebenen finanziellen Defizit. Frankfurts oberster Amtsarzt jedenfalls wird nicht müde, 
Werbung für seine Profession zu machen. „Wir bieten eine unglaubliche Vielfalt“, sagt René Gottschalk. „Wir behandeln hier im Amt viel mehr Patienten als manche Klinik.“ 
Von mangelnder Patientenversorgung könne also keinesfalls die Rede sein. 


Neue Wege: In der Rhein-Main-Metropole Frankfurt sucht das Gesundheitsamt seit einigen Jahren in Kooperation mit der medizinischen Fakultät der Goethe-Universität nach Berufsnachwuchs. Das Amt ist akademische Lehreinrichtung für Ärztinnen und Ärzte im Praktikum. Die verschlug bislang eher selten in den öffentlichen Dienst, weil der Beruf der Amtsärztin/des Amtsarztes an den Fakultäten weithin unbekannt ist. 
Das soll sich nun ändern. 

Gesundheitsministerkonferenz: ÖGD stärken
„Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ist ein unverzichtbarer Teil eines modernen Sozialstaats. Er gehört neben der ambulanten und stationären Versorgung zur Basis des Gesundheitswesens“, heißt es im Leitbild für einen modernen Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD), das die Gesundheitsministerkonferenz Anfang 2018 einstimmig verabschiedete – Überschrift „Der ÖGD: Public Health vor Ort“. 
Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Gesundheit der Länder betonten die herausgehobene und verantwortliche Stellung, die dem Öffentlichen Gesundheitsdienst im Rahmen der Daseinsvorsorge zukomme: „Ein starker ÖGD ist eine Voraussetzung für das Funktionieren des Public Health-Systems insgesamt.“ 
Diese dritte Säule des Gesundheitssystems gelte es zukunftsfest zu machen, auch mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel, der eine Neujustierung der Ausrichtung erforderlich mache. Hoheitliche Schutz- und Überwachungsaufgaben würden künftig um steuernde, partizipative und gesundheitsfördernde Tätigkeiten ergänzt, heißt es in diesem Leitbild. 
Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Gesundheitsämtern, die diese Herausforderungen schultern müssen, wenden sich die Gesundheits-Ressortchefs in ihrem Papier zu – wenn auch erst ganz am Ende: „Der ÖGD braucht eine breite und nachhaltige politische Unterstützung aller Ebenen, von Kommune bis Bund. 
Es ist notwendig, die Personalentwicklung und Personalausstattung im ÖGD am Umfang seiner fachlichen Aufgaben auszurichten und nicht allein an finanzpolitischen oder verwaltungspolitischen Vorgaben.“ Wohl gesprochen, möchte man der Politik da zurufen, allein wo bleibt die politische Ausgestaltung dieses Bekenntnisses?
Weiterhin erleben die Beschäftigten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, dass die Anforderungen und ihr Aufgabenprofil durch eine Vielzahl legislativer Entscheidungen weiter steigen und ausdifferenziert werden, sich aber nichts in Sachen adäquater Personalausstattung tut. Im Gegenteil: Sehenden Auges werden die mitunter dramatischen Folgen des Personalmangels in verschiedensten Bereichen hingenommen, ohne dass offenkundiger politischer Handlungsdruck in Taten umgesetzt würde. 

Nur ein Beispiel: Viele Gesundheitsämter können die Hygiene-Überwachung von Kliniken und Praxen kaum noch bewerkstelligen. Wie relevant das aber wäre, zeigt die Statistik: Jedes Jahr infizieren sich allein in deutschen Krankenhäusern mehr als 50.000 Menschen mit gefährlichen Krankheitserregern. Auch im ambulanten Bereich steigt die Zahl der Infektionen mit multiresistenten Keimen, bei denen Antibiotika keine Wirkung mehr zeigen. Bis zu 2.300 Todesfälle pro Jahr werden damit in Verbindung gebracht. 
Allein in Anbetracht dessen ist Deutschlands Öffentlicher Gesundheitsdienst noch weit entfernt von einem funktionierenden Public Health-System – vielmehr ist er auch ein Patient in Not."

Quelle: t@cker-inside 3/2020, S. 10-12.





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