"Händeringende Suche nach Personal
Öffentlicher Gesundheitsdienst: Patient in Not
Am Anschlag: Im Öffentlichen Gesundheitsdienst fehlt der Nachwuchs –
Amtsärztinnen und Amtsärzte werden verzweifelt gesucht.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst in
Deutschland – die so genannte „dritte Säule“ des Gesundheitssystems
rückt immer dann verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, wenn
große Teile der Bevölkerung mit gesundheitlichen Gefahren und
Herausforderungen konfrontiert sind. Jüngstes Beispiel: Das
Corona-Virus, das sich, ausgehend von China, seit Ende 2019 rasant rund
um den Globus ausbreitet, woraufhin die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ – den
Gesundheitsnotstand – erklärte.
Spätestens seit den ersten Infektionen
in Deutschland ist auch der Öffentliche Gesundheitsdienst in den
Gesundheitsämtern bundesweit in Habachtstellung – zusätzlich zum
„Alltagsgeschäft“.
Doch allein dieses kann zunehmend kaum noch von den
knapp 2.500 Amtsärztinnen und Amtsärzten gestemmt werden: Hunderte
Stellen sind unbesetzt, medizinischer Nachwuchs geht wegen des deutlich
schlechteren Einkommens im öffentlichen Dienst lieber in Praxen und
Kliniken.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland – er ist
selbst ein Patient in Not.
Amtsärztinnen und Amtsärzte überwachen die
Infektionshygiene in Krankenhäusern und Arztpraxen, führen
Schuleingangsuntersuchungen und Impfberatungen durch, ebenso die
Tauglichkeitsuntersuchungen für künftige Beamtinnen und Beamte, stellen
Gutachten, unter anderem in Asylverfahren aus und beraten Prostituierte
in Gesundheitsfragen. Hinzu kommen aufsuchende Hilfen für Menschen, die
keine Wohnung haben, oder schwer psychisch Kranke. In den knapp 400
Gesundheitsämtern sind insgesamt etwa 17.000 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter beschäftigt. Was seit Jahren bekannt ist und von
Ärzteverbänden und Gewerkschaften permanent kritisiert wird, ist die
zunehmend schwerer werdende, bisweilen vollkommen erfolglose Suche nach
medizinischem Nachwuchs.
Aus der Ärztestatistik der Bundesärztekammer
geht hervor, dass die Zahl der berufstätigen Fachärztinnen und Fachärzte
für Öffentliches Gesundheitswesen als nahezu einziger Facharztgruppe in
den letzten Jahren deutlich rückläufig ist, verbunden mit einem
erheblichen Nachwuchsmangel und einer hohen Zahl unbesetzter Stellen bei
den Gesundheitsämtern.
Amtsärztinnen und Amtsärzte führen Schuleingangsuntersuchungen und
Tauglichkeitsuntersuchungen für künftige Beamtinnen und Beamte durch,
überwachen die Infektionshygiene in Krankenhäusern und Arztpraxen und
vieles mehr.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst ist neben den
niedergelassenen Praxen und Kliniken die dritte Säule des
Gesundheitssystems in Deutschland – in den knapp 400 Gesundheitsämtern
sind insgesamt etwa 17.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.
Neubesetzung von Stellen: Fehlanzeige
Im Sommer 2019 schlug beispielsweise in Berlin
Falko Liecke, Gesundheitsstadtrat in Neukölln, Alarm. „Ab September
haben wir keine Amtsärzte mehr im Bezirk“, kündigte der CDU-Politiker in
der „Berliner Morgenpost“ an – neben dem bisherigen Leiter des
Gesundheitsamts ging auch dessen Stellvertreter in den Ruhestand.
Neubesetzung der Stellen – bislang Fehlanzeige.
Den Grund, weshalb er
trotz mehrfachen Stellenausschreibungen keinen neuen Amtsarzt findet,
kennt der Gesundheitsstadtrat: Geld. „Wir bezahlen einfach zu schlecht“,
so Liecke. Mit knapp über 4.000 Euro im Monat verdient ein Amtsarzt
zwischen 1.000 und 1.500 Euro weniger als ein Klinikarzt. Er hätte einen
Bewerber aus Schleswig-Holstein gehabt, den er mit Kusshand eingestellt
hätte. Der aber lehnte ab – obwohl er als Chef des Gesundheitsamtes
Neukölln einen riesen Karrieresprung gemacht hätte.
Aber: „Er hätte bei
uns 20.000 Euro weniger verdient im Jahr – da ist die Absage völlig
verständlich“, sagt Liecke in der Morgenpost.
Auch andere Bezirke in der
Hauptstadt leiden unter dem verheerenden Amtsärzte-Mangel. Laut Liecke
wird es vermutlich ab 2022 nur noch in vier Bezirken –
Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinickendorf, Spandau und
Tempelhof-Schöneberg – Amtsärzte geben, in den anderen neun Stadtteilen
gingen in den kommenden drei Jahren alle Amtsärzte in Ruhestand.
Insgesamt seien 20 Prozent der aktuell rund 350 in den Berliner
Bezirksverwaltungen und einzelnen Bereichen der Hauptverwaltungen
bestehenden Ärztestellen nicht besetzt.
Die Leitung des Neuköllner
Gesundheitsamtes übernahm im letzten Jahr provisorisch ein Kinderarzt.
Liecke: „Wir befinden uns damit schon in einer Grauzone.“
Der Mediziner
ist eigentlich ärztlicher Bereichsleiter im Kinder- und
Jugendgesundheitsdienst Neukölln und verantwortlich für die
gesundheitliche Entwicklung von 30.000 Kindern und Jugendlichen bis 18
Jahre. Eine passende Facharztausbildung für die Stelle eines Amtsarztes
fehlt ihm ...
Zwischenzeitlich arbeitet Berlin verschärft an einer Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes: In einer Aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses zur Lage rund um das Coronavirus Ende Februar teilte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci mit, dass man den Amtsärztinnen und Amtsärzten in der Hauptstadt nun ebenso viel Geld bezahle wie den Medizinern in den Krankenhäusern.
Zwischenzeitlich arbeitet Berlin verschärft an einer Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes: In einer Aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses zur Lage rund um das Coronavirus Ende Februar teilte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci mit, dass man den Amtsärztinnen und Amtsärzten in der Hauptstadt nun ebenso viel Geld bezahle wie den Medizinern in den Krankenhäusern.
Dies bedeute eine Gehaltserhöhung von
bis zu 1.500 Euro.
Die Koalition hoffe nun, mehr Mediziner für die
Bezirksämter und auch für die Feuerwehr zu gewinnen. Aktuell gebe es
zwar noch immer 62 offene Stellen in den Gesundheitsbehörden der
Bezirke, das seien aber weniger als zuletzt, so Kalayci.
Neukölln schlägt Alarm: Gesundheits-Stadtrat Falko Liecke findet
kaum noch Amtsärztinnen und Amtsärzte für seinen Bezirk. Der
psychiatrische Notdienst des Gesundheitsamtes, zuständig etwa bei
Polizeieinsätzen im Zusammenhang mit psychisch kranken Menschen, fällt
zum Beispiel streckenweise komplett aus, weil kein Facharzt zur
Verfügung steht.
Frankfurt wirbt um Medizin-Studierende
Auch in der Main-Metropole Frankfurt ist die
Nachwuchsgewinnung für den Öffentlichen Gesundheitsdienst ein
Dauer-Thema. Das dortige Gesundheitsamt mit seinen über 250
Mitarbeitenden ist eines der größten Gesundheitsämter in Deutschland –
und sucht, wer wollte sich da wundern, ebenfalls händeringend Ärztinnen
und Ärzte für die Sicherstellung verschiedenster Gesundheitsangebote für
die Bevölkerung.
Neben dem Einsatz für eine bessere Bezahlung bemühen
sich die Hessen unterdessen auch anderweitig um den Berufsnachwuchs:
direkt an den medizinischen Hochschulen.
Seit 2013 ist das Frankfurter
Gesundheitsamt akademische Lehreinrichtung für Ärztinnen und Ärzte im
Praktischen Jahr (PJ). Pädiatrie, Gynäkologie, Neurologie, Dermatologie –
Jahr für Jahr grübeln angehende Mediziner über das „richtige“ Wahlfach
im Praktischen Jahr (PJ) ihres Studiums. Ins Gesundheitsamt verschlug es
dagegen bislang nie jemanden. Zum einen, weil der Beruf der
Amtsärztin/des Amtsarztes an den Fakultäten weithin unbekannt ist. Zum
anderen gab es schlicht keine akademische Kooperation mit
Gesundheitsämtern. Bis René Gottschalk, Leiter des Frankfurter
Gesundheitsamts, gemeinsam mit der Johann Wolfgang Goethe-Universität
eine ebensolche Zusammenarbeit auf die Beine stellte. Im August 2013
begrüßte er die bundesweit erste Medizinstudentin, die im Rahmen ihres
PJ ein Ausbildungstertial im Öffentlichen Gesundheitsdienst absolvierte.
PJ-lerin Regina Ellwanger sagte damals der „Ärztezeitung“: „Im Studium
spielt der Öffentliche Gesundheitsdienst nur eine sehr geringe Rolle.
Ich habe es vermisst, Themen wie die gesellschaftlichen Aufgaben und den
politischen Kontext des ärztlichen Handelns im Studium zu bearbeiten.“
Daher habe sie die Möglichkeit im Frankfurter Gesundheitsamt sofort
interessiert.
Die Aufwertung als akademische Lehreinrichtung kann dem
Öffentlichen Gesundheitsdienst nur guttun, so auch die einhellige
Meinung aller Beteiligten in Frankfurt.
Unstrittig sei, dass das Amt mit
etwa 250 Mitarbeitenden, darunter mehr als 50 Ärztinnen und Ärzte in
fünf Fachabteilungen (Medizinische Dienste, Kinder- und Jugendmedizin,
Zahnmedizin, Psychiatrie, Infektiologie und Hygiene), anspruchsvolle
Rahmenbedingungen bietet, um Medizinstudierenden einen Einblick in das
Berufsfeld zu vermitteln.
Regina Ellwangers seinerzeitiges Fazit nach
vier Monaten im Gesundheitsamt:
„Die Zeit war bis jetzt sehr spannend.
Ich kann durch die verschiedenen Abteilungen rotieren und komme dadurch
mit den unterschiedlichsten Fachrichtungen und Tätigkeiten in Berührung.
In der Tat bin ich überrascht, wie vielfältig die Aufgaben des
Gesundheitsamtes sind und wie viel direkten Patientenkontakt es hier
gibt.“ Nachdem sich auf die PJ-Pionierin im Frankfurter Gesundheitsamt
bereits mehrere weitere interessierte Jung-Medizinerinnen und -Mediziner
gemeldet haben, ist die Hoffnung da, mit der Kooperation einen kleinen
Schritt Richtung nachhaltige Nachwuchsgewinnung gemacht zu haben.
„Wir
wollen mit dem PJ vor allem für den Öffentlichen Gesundheitsdienst
werben“, sagt Amtschef Gottschalk. „Wir wollen zeigen, dass wir als
Amtsärzte subsidiär tätig sind, wir wollen die jungen Leute für unseren
Beruf begeistern.“
Das Problem sei der Facharztmangel. Der Öffentliche
Gesundheitsdienst sei kein Thema im Medizinstudium, es gibt zudem keinen
einzigen Lehrstuhl in Deutschland für den Öffentlichen
Gesundheitsdienst. Pro Jahr erwerben im Durchschnitt gerade einmal etwas
mehr als 30 Ärztinnen und Ärzte einen entsprechenden Facharzt (für
öffentliches Gesundheitswesen). Die Ursache dafür liegt neben dem
verbesserungsbedürftigen Bekanntheitsgrad und Image dieser Fachrichtung
(„Verwaltungsärzte“ ist nur eine der despektierlichen Begrifflichkeiten,
die immer wieder auftauchen) selbstredend auch im bereits beschriebenen
finanziellen Defizit. Frankfurts oberster Amtsarzt jedenfalls wird
nicht müde,
Werbung für seine Profession zu machen. „Wir bieten eine
unglaubliche Vielfalt“, sagt René Gottschalk. „Wir behandeln hier im Amt
viel mehr Patienten als manche Klinik.“
Von mangelnder
Patientenversorgung könne also keinesfalls die Rede sein.
Neue Wege: In der Rhein-Main-Metropole Frankfurt sucht das
Gesundheitsamt seit einigen Jahren in Kooperation mit der medizinischen
Fakultät der Goethe-Universität nach Berufsnachwuchs. Das Amt ist
akademische Lehreinrichtung für Ärztinnen und Ärzte im Praktikum. Die
verschlug bislang eher selten in den öffentlichen Dienst, weil der Beruf
der Amtsärztin/des Amtsarztes an den Fakultäten weithin unbekannt ist.
Das soll sich nun ändern.
Gesundheitsministerkonferenz: ÖGD stärken
„Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ist ein
unverzichtbarer Teil eines modernen Sozialstaats. Er gehört neben der
ambulanten und stationären Versorgung zur Basis des Gesundheitswesens“,
heißt es im Leitbild für einen modernen Öffentlichen Gesundheitsdienst
(ÖGD), das die Gesundheitsministerkonferenz Anfang 2018 einstimmig
verabschiedete – Überschrift „Der ÖGD: Public Health vor Ort“. Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Gesundheit der Länder betonten die herausgehobene und verantwortliche Stellung, die dem Öffentlichen Gesundheitsdienst im Rahmen der Daseinsvorsorge zukomme: „Ein starker ÖGD ist eine Voraussetzung für das Funktionieren des Public Health-Systems insgesamt.“
Diese dritte Säule des Gesundheitssystems gelte es zukunftsfest zu machen, auch mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel, der eine Neujustierung der Ausrichtung erforderlich mache. Hoheitliche Schutz- und Überwachungsaufgaben würden künftig um steuernde, partizipative und gesundheitsfördernde Tätigkeiten ergänzt, heißt es in diesem Leitbild.
Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Gesundheitsämtern, die diese Herausforderungen schultern müssen, wenden sich die Gesundheits-Ressortchefs in ihrem Papier zu – wenn auch erst ganz am Ende: „Der ÖGD braucht eine breite und nachhaltige politische Unterstützung aller Ebenen, von Kommune bis Bund.
Es ist notwendig, die Personalentwicklung und Personalausstattung im ÖGD am Umfang seiner fachlichen Aufgaben auszurichten und nicht allein an finanzpolitischen oder verwaltungspolitischen Vorgaben.“ Wohl gesprochen, möchte man der Politik da zurufen, allein wo bleibt die politische Ausgestaltung dieses Bekenntnisses?
Weiterhin erleben die Beschäftigten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, dass die Anforderungen und ihr Aufgabenprofil durch eine Vielzahl legislativer Entscheidungen weiter steigen und ausdifferenziert werden, sich aber nichts in Sachen adäquater Personalausstattung tut. Im Gegenteil: Sehenden Auges werden die mitunter dramatischen Folgen des Personalmangels in verschiedensten Bereichen hingenommen, ohne dass offenkundiger politischer Handlungsdruck in Taten umgesetzt würde.
Nur ein Beispiel: Viele Gesundheitsämter können die Hygiene-Überwachung von Kliniken und Praxen kaum noch bewerkstelligen. Wie relevant das aber wäre, zeigt die Statistik: Jedes Jahr infizieren sich allein in deutschen Krankenhäusern mehr als 50.000 Menschen mit gefährlichen Krankheitserregern. Auch im ambulanten Bereich steigt die Zahl der Infektionen mit multiresistenten Keimen, bei denen Antibiotika keine Wirkung mehr zeigen. Bis zu 2.300 Todesfälle pro Jahr werden damit in Verbindung gebracht.
Allein in Anbetracht dessen ist Deutschlands Öffentlicher Gesundheitsdienst noch weit entfernt von einem funktionierenden Public Health-System – vielmehr ist er auch ein Patient in Not."
Quelle: t@cker-inside 3/2020, S. 10-12.
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